Marion


Doppelseitige Lippen- und Kieferspalte & Verkehrsunfall

„Ich bin gerne die, die ich bin. Die Medaille hat zwei Seiten: Die eine ist schwer und ist schlimm, aber die andere hat mich stark gemacht und zeigt mir, was ich geschafft habe, wie ich gewachsen bin und dass ich beide Geschichten gut tragen kann.“

Marions Leben ist gezeichnet von zwei Narben und zwei Geschichten.

1965 kam Marion mit einer doppelseitigen Lippen- und Kieferspalte auf die Welt. In der damaligen Zeit war die Pränataldiagnostik bei weitem nicht auf dem Stand der heutigen Möglichkeiten, sodass ihre Eltern erst mit der Entbindung von der Wachstumsanomalie, die bereits zwischen der 7. und der 9. Schwangerschaftswoche entsteht, erfuhren. Sie waren erschrocken hilflos und konnten nur schwer mit der Situation umgehen.

„Ich kann den damaligen Schock meiner Eltern so gut verstehen, auch wenn mich ihr Umgang mit der Situation sehr verletzt und geprägt hat.“

Bereits mit vier Monaten wurde Marion das erste Mal operiert. Dabei wurde die Kuppe vom Beckenkamm entfernt, um sie als Kieferersatz einzusetzen. Über die Jahre, angefangen im ersten bis hin zu ihrem 23. Lebensjahr, musste Marion mehr als 10 Operationen über sich ergehen lassen. Dabei wurde die Spalte vollständig geschlossen und die Nase neu rekonstruiert.

„Kinder in der Schule haben mich `Boxer` genannt, weil meine Nase platt war. Sie wollten weder ihr Getränk, noch ihren Schokoriegel mit mir teilen, aus Angst, dass ich ansteckend sein könnte.“

Über ihr Leiden und Ängste wurde jedoch zu Hause nie gesprochen. Halt gab ihr hingegen ihr behandelnder Arzt. „Ab der 2. OP hat mich immer derselbe Arzt operiert. Ich durfte ihn so viel Fragen stellen, wie ich wollte. Es war ihm wichtig, dass ich verstehe, was passiert. Es entstand ein Vertrauen, eine Verbindung und das war schön“, erzählt Marion mit sehr viel Demut und Dankbarkeit. Doch bis heute sitzen die Wunde und der Schmerz tief, dass Marion während ihrer gesamten Kindheit nie einen wirklichen Rückhalt spürte.

Mit 22 Jahren folgte der letzte Eingriff und als sie nach diesem zufrieden zur Nachkontrolle kam, faste dieser Arzt es mit den Worten zusammen: „Weißt Du was, das ist so gut geworden, wir schließen das jetzt ab.“

Sie erinnert sich an das Gefühl von Freiheit und Neuanfang und die Gedanken „Nie wieder Krankenhaus“ schwebten in ihrem Kopf. Doch kurz darauf kam es zu einem fatalen Motorradunfall mit schwerwiegenden Folgen…

Marion saß als Beifahrerin bei ihrem Freund auf dem Motorrad, als ein Auto ihnen die Vorfahrt nahm und ihr Bein zwischen den Fahrzeugen einklemmte. „Es war alles kaputt, der Oberschenkel, das Kniegelenk, ich hatte eine offene Fraktur am Unterschenkel und die Ärzte waren unsicher und ratlos, was sie mit meinem Bein tun sollten.“

Drei Operationen folgten innerhalb der nächsten zwei Jahre. Vier Jahre musste Marion sich krankschreiben lassen. Nach jedem Eingriff musste sie neu laufen lernen, wurde aufgrund ihres Fixateurs (eine äußere Haltevorrichtung zur Ruhigstellung von Knochenbrüchen) angestarrt und darum gebeten das Gestell abzudecken, weil Menschen den Anblick nicht ertragen konnten. Ein Gehstock wurde zu ihrem wichtigsten Begleiter. Sie wurde angestarrt, doch niemals müde das Glück und die neuen Wege zu sehen. „Mein Bein sagt so oft: Du spinnst doch… aber mein Herz sagt „bitte mehr“.

Marions Leben veränderte sich schlagartig. Es war eine furchtbare und schmerzhafte Zeit für sie. Nach all den Jahren, die sie unter ihrer Spalte gelitten hatte, sollte nun ein Neuanfang voller Leichtigkeit für sie bereitstehen. Sie war durcheinander, stand unter Schmerzmitteln und war wütend.

Aufgrund ihrer eingeschränkten Beweglichkeit konnte sie ihrem bisherigen Beruf der Erzieherin nicht mehr nachgehen. Ihr „Leben nach der Spalte“ brachte somit wirklich einen Neuanfang mit sich, wenn auch anders als sie es sich vorgestellt hatte. Marion begann sich neu zu orientieren und entschied sich schließlich für eine Ausbildung zur Logopädin. Heute weiß sie, dass sich damals Türen für sie schlossen, gleichzeitig aber immer andere Türen öffneten: Sie kann nicht rennen, aber sie kann gehen. Sie kann nicht mehr Skifahren und joggen aber noch immer Langlauf und Stand Up Paddling. Wenn Marion Pausen benötigt, nimmt sie sich diese. Sie unternimmt bis heute gerne unterschiedliche Aktivitäten und nimmt die anschließenden Schmerzen in Kauf.

Marion weiß, dass sie trotz all ihrer Einschränkungen immer noch vieles kann. Das hat sie sich erarbeitet. Nicht nur auf körperlicher Ebene, sondern auch auf mentaler. Bis heute arbeitet sie stetig daran, die Traumata ihrer Kindheit und Jugend loszulassen, sie anzunehmen und ihren Frieden zu finden. Ein Teil davon ist auch die Akzeptanz ihrer Narben. Die im Gesicht erzählen schon so lange ihre Geschichte und wird von den Menschen in ihrer Umgebung kaum noch wahrgenommen, weil sie immer da und niemals versteckt wurde. Und auch die vielen Narben an ihrem Bein gehören zu ihr.

Mein Bein sagt so oft: Du spinnst doch… aber mein Herz sagt `bitte mehr`.“




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