Merit ist 32 Jahre alt und leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung namens Lupus. Ihre ersten Narben erhielt sie in der Pubertät an Armen und Beinen, was damals noch als pubertätsbedingte Akne oder Sonnenallergie abgetan wurde. Sonnenstrahlen hatten schon immer eine schädliche Wirkung auf ihre Haut, weswegen sie nie kurzärmelig aus dem Haus ging. Anfangs, um die UV-Strahlen zu vermeiden, später jedoch aus Scham über die vernarbten Arme.
Besonders stark litt Merit jedoch unter den Narben im Gesicht. „Ich wurde nur gehänselt. Nicht direkt, aber immer hinter dem Rücken. Es war schlimm“, berichtet sie.
Neben den Hänseleien litt Merit jedoch zunehmen unter Schmerzen in den Beinen. Anfangs dachte sie an eine Muskelzerrung, die sie sich beim Kunstturnen zugezogen haben musste. Bis sie plötzlich bei einem Handstand durch einen blitzartigen Schmerz zusammenbrach, der ihr vom Zeh in ihren Rücken zog. Sie gestand sich ein, dass etwas Schwerwiegenderes nicht in Ordnung war und mit dieser Einsicht begannen die Arztbesuche und die Suche nach der „Ursache“.
„Wenn es nicht besser wird, kommen Sie wieder“, sagten ihr die meisten Ärzte und schickten sie ohne große Untersuchungen nach Hause. Sie erhielt immer wieder das Gefühl, als stünde es ihr mit 15 Jahren nicht zu, wirklich solche Schmerzen zu verspüren. Sie litt, wurde jedoch nicht ernst genommen, fehlte vor lauter Schmerzen stattdessen monatelang in der Schule.
Nach einem Arztwechsel und sechs weiteren Monaten unter Schmerzen wurde endlich die gewünschte Diagnostik betrieben und ein MRT durchgeführt, mit dem Ergebnis: Bandscheibenvorfall. Mit der Diagnose begannen die Therapien, doch was sie aus heutiger Sicht weiß und schmerzlich akzeptieren muss, ist dass die Ärzte den Zeitpunkt, an dem vielleicht noch Hilfe möglich gewesen wäre, verpasst hatten. Denn was früher viel zu lange als pubertätsbedingte Akne oder Sonnenallergie abgetan wurde, ist eigentlich eine spätdiagnostizierte rheumatische Erkrankung, die das Bindegewebe betrifft und bei Merit parallel mit einem Immundefekt einhergeht.
Irgendwann war klar, eine Operation war unumgänglich und musste möglichst zeitnah geschehen. Merit erinnert sich noch heute an den Moment, in dem sie sich ganz bewusst vor dem Spiegel von dem Aussehen ihres Rückens verabschiedete. Doch was schwerer wog als der nun neue, mit einer großen Narbe versehene Rücken, war die Tatsache, dass die Schmerzen einfach blieben. Obwohl es dafür keine Erklärung gab, brauchte die Operation für Merit keine Besserung. „Ist sicher psychosomatisch“ wurde regelmäßig vermutet und Meret damit im Teenager-Alter abgestempelt.
Als Merit dann volljährig wurde und sich im Studium befand, recherchierte sie selbst und fand einen Chirurgen, der sich die Mühe machte, ihre Krankheitsgeschichte der zehn vergangenen Jahre zu analysieren. Er fand eine Gelenkzyste und eine Verhärtung, die es galt zu entfernen. Die Schmerzen trotzdem die Gelenkzyste kehrte zurück. Merit bat dann um einen Eingriff, den man eigentlich so lange wie möglich herauszögern würde: Die Versteifung des Gelenkes, die ein wiederkehrendes Wachstum aber zumindest vermeiden würde. Nach diesem Eingriff konnte sie sich endlich wieder bewegen, wenn auch teils unter Schmerzen. Merit spricht von den zwischenzeitlich schönsten Jahren ihres Lebens.
Im Jahr 2020 traten erneut Schmerzen auf, die sie zunächst zu ignorieren versuchte, dann jedoch in der Ambulanz einer Klinik ansprach. Das Problem zu diesem Zeitpunkt jedoch war der Lockdown, der frisch ausgesprochen wurde und ihre Beschwerden in der aktuellen Situation weniger zu einem Notfall machten.
Denn auch nachdem sie endlich eine Diagnose erhielt, fand sie keinen Arzt, der sich ihrer Behandlung annehmen wollte. Eine erneut wachsende Zyste, die diesmal an einer anderen Stelle auftrat, musste entfernen werden. Der Eingriff war mit einem sehr hohen Risiko verbunden, weswegen die meisten Ärzte sich dagegen stellten. Erst nach intensiver Recherche und mit Glück gelang sie an einen Arzt, der sich ihr annahm und die Operation durchführte. Leider kam es zu genau der Komplikation, vor derer die anderen Ärzte gewarnt hatten: Merits Rückenmarkshaut wurde verletzt und ließ sich nicht mehr schließen. Stattdessen waren die Schichten aufgesplittert, sodass sogenanntes Hirnwasser dazwischentrat.
Merits Krankengeschichte ist lang und mit vielen Rückschlägen verbunden. Sie lebt mit anhaltenden Schmerzen und blickt zum Zeitpunkt des Interviews auf insgesamt 14 operative Eingriffe zurück. Wie es in der Zukunft für sie weitergeht und ob sie jemals schmerzfrei sein wird, ist ungewiss.
Sie war so häufig auf der Suche nach Medizinern, die sich ihrer annehmen und sie nicht mit den Worten „der Schaden besteht schon zu lange und ist irreparabel“ ablehnen.
„Es sind meine Lebensjahre und es kann auch sein, dass sich mein Befinden nicht mehr arg ändert. Das ist okay, aber warum legt man mir denn solche Steine in den Weg?“, fragt sie sich, denn genau so fühlt es sich für sie an, wenn sie die teils quälenden Fragen überkommen. War es zu spät? Wurden die Beschwerden zu lange getragen und ist die Abnutzung inzwischen zu groß, um richtig therapiert zu werden? Wurde sie von so vielen Ärzten so oft abgelehnt, weil man sich nicht an ihren Fall herantraute? Liegt es am Versicherungsstatus?
Es sind Gedanken, die Merit aus Selbstschutz versucht wegzuschieben und dennoch begleiten sie diese permanent.
Ihre Narben sind in ihrer Geschichte nur ein kleiner, fast nebensächlicher Aspekt. „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich mich für meine Narben schäme? Nein, ich habe so viel hinter mir, warum sollte ich mich dafür schämen?“. Oft scheint es ihr jedoch, als würden sich andere daran stören. Und auch wenn sie versucht, darüber zu stehen, merkt man ihr die Verletzungen, die das Verhalten anderer Menschen verursacht, sehr an.
Ihr persönlicher Blick auf die Narben ist bis heute immer abhängig vom Ausgang einer OP. War ein Eingriff erfolgreich, fühlte sie sich selbstbewusst und sah ihre Narbe als schön an. War eine Operation in Folge nicht zufriedenstellend, wurde auch ihr Blick auf die Narben eher negativ.